15.07.2015 Drucksache 6/888Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 3. August 2015 Sanktionen im Rechtskreis SGB II in Thüringen Die Kleine Anfrage 333 vom 1. Juni 2015 hat folgenden Wortlaut: Die Jobcenter haben im vergangenen Jahr bundesweit erneut mehr als eine Million Sanktionen gegen HartzIV -Bezieher ausgesprochen, die nach Ansicht der Jobcenter ihren Pflichten nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), vor allem den sogenannten Mitwirkungspflichten, nicht nachgekommen sein sollen. Die Sanktionen bestehen vor allem darin, den Betroffenen die Leistungen zu kürzen. Mittlerweile hat das Sozialgericht (SG) Gotha bzw. dessen 15. Kammer - in einem bei ihm anhängigen Verfahren einen sogenannten Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht gefasst. Das SG Gotha ist der Überzeugung, dass die Sanktionsregelungen des SGB II, d.h. die Kürzung der Leistungen nicht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Schutz des soziokulturellen Existenzminimums, welches sich aus der Menschenwürdegarantie (Artikel 1 Grundgesetz) und dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Grundgesetz) ergibt, vereinbar ist. Zur Begründung verweist das Thüringer Sozialgericht auch auf das sogenannte Regelsatz -Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010. Danach haben die ungekürzten Leistungen nach SGB II das verfassungsrechtlich garantierte menschenwürdige Existenzminimum vollständig abzudecken . Daher ist eine Kürzung dieser Leistungen, so das SG Gotha, verfassungsrechtlich nicht erlaubt. Ich frage die Landesregierung: 1. Wie viele Sanktionen wurden nach Kenntnis der Landesregierung in den Jahren 2013 und 2014 in Thüringen verhängt und wie viele Sanktionen trafen davon Personen unter bzw. über 25 Jahren sowie Familien mit minderjährigen Kindern (bitte getrennt nach Geschlecht und Kreisen bzw. kreisfreien Städten in absoluten Zahlen sowie prozentual aufführen)? 2. Was sind nach Kenntnis der Landesregierung die wesentlichen Gründe für diese in Frage 1 genannten Sanktionen (bitte getrennt nach Jahresscheiben und Kreisen bzw. kreisfreien Städten aufführen)? 3. Welchen Grad hatten die Kürzungen (jeweils in 10-Prozent-Schritten) in den in Frage 1 dargestellten Fällen von Sanktionen (bitte getrennt nach Jahresscheiben und Kreisen bzw. kreisfreien Städten aufführen)? 4. Wie viele Widersprüche und Klagen gab es nach Kenntnis der Landesregierung in den Jahren 2013 und 2014 gegen Sanktionsbescheide der Jobcenter in Thüringen (bitte getrennt nach Jahresscheiben und Kreisen bzw. kreisfreien Städten aufführen)? 5. Mit welchem Erfolg wurden die in Frage 4 genannten Widersprüche und Klagen durchgeführt (bitte nach Art der Sanktion und Art und Weise des Erfolgs aufführen)? K l e i n e A n f r a g e der Abgeordneten Leukefeld (DIE LINKE) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/888 6. Wie gestaltet sich nach Kenntnis der Landesregierung die Sanktionspraxis in den Jahren 2013/2014 im Vergleich zu den Jahren 2010 bis 2012 (bitte nach absoluten Zahlen und prozentual aufführen) in Thüringen? 7. Welche Auffassung vertritt die Landesregierung mit Blick auf den o.g. Vorlagebeschluss des SG Gotha zu der in Frage 1 bis 6 erfragten Entwicklung? 8. Sieht die Landesregierung, noch vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Handlungsbedarf in Thüringen, wenn ja, welchen? Das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie hat die Kleine Anfrage namens der Lan desre gierung mit Schreiben vom 14. Juli 2015 wie folgt beantwortet: Vorbemerkung: Die zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende erheben nach § 51b SGB II laufend die für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende erforderlichen Daten und übermitteln diese an die Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur für Arbeit ist gemäß § 53 SGB II zuständig für die Erstellung der Statistik über die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die erstellten Statistiken werden regelmäßig veröffentlicht. Sie sind unter www.statistik.arbeitsagentur.de verfügbar. Die Thüringer Landesregierung führt keine eigenständigen Datenerhebungen durch. Die in den nachfolgenden Antworten enthaltenen Daten beruhen auf den Veröffentlichungen der Bundesagentur für Arbeit. Eine der jeweiligen Fragestellung entsprechende Datendarstellung ist daher nur zum Teil möglich. Zu 1.: Jahresgesamtzahlen der zum Personenkreis der unter und über 25-Jährigen sowie der Familien mit minderjährigen Kindern festgestellten Sanktionen, getrennt nach Kreisen bzw. kreisfreien Städten, werden in den verfügbaren Veröffentlichungen zur Statistik der Bundesagentur für Arbeit nicht ausgewiesen. Die Daten des jeweiligen Berichtsmonats werden unter der Internetadresse http://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation /Statistik/Statistik-nach-Themen/Grundsicherung-fuer-Arbeitsuchende-SGBII/Sanktionen/Sanktionen -Nav.html zum Teil auch nach Strukturmerkmalen aufgeführt. Die nachstehende Tabelle 1 enthält eine Übersicht zu den in den Jahren 2013 und 2014 in den Thüringer Jobcentern neu festgestellten Sanktionen. Tabelle 1: Summe der neu festgestellten Sanktionen in den Jahren 2013 und 2014 Jobcenter 2013 2014 Eisenach, Stadt 890 659 Erfurt, Stadt 4.709 4.707 Gera, Stadt 2.859 2.605 Jena, Stadt 1.123 986 Suhl, Stadt 409 442 Weimar, Stadt 1.196 943 Altenburger Land 1.401 1.313 Eichsfeld - 1 - 1 Gotha 3.654 3.434 Greiz 1.206 936 Hildburghausen 670 509 Ilm-Kreis 2.284 1.612 Kyffhäuserkreis 905 953 Nordhausen 1.700 1.491 Saale-Holzland-Kreis 1.076 802 Saale-Orla-Kreis 924 758 Saalfeld-Rudolstadt 2.585 2.554 Schmalkalden-Meiningen 990 980 Sömmerda 845 999 3 Drucksache 6/888Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Jobcenter 2013 2014 Sonneberg 566 552 Unstrut-Hainich-Kreis 2.614 2.648 Wartburgkreis 711 693 Weimarer Land 1.483 1.293 Thüringen 35.819 32.243 Die nachstehende Tabelle 2 enthält eine Übersicht zum jahresdurchschnittlichen Bestand an erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (eLb) mit mindestens einer Sanktion nach Strukturmerkmalen für die Jahre 2013 und 2014 für Thüringen gesamt. Tabelle 2: Jahresdurchschnittlicher Bestand eLb mit mindestens einer Sanktion nach Strukturmerkmalen 2013 2014 Bestand eLb mit mindestens einer Sanktion Sanktionsquote in Prozent Bestand eLb mit mindestens einer Sanktion Sanktionsquote in Prozent Insgesamt 4.563 3,3 4.150 3,2 Männer 3.144 4,7 2.856 4,5 Frauen 1.419 2,0 1.294 1,9 unter 25 Jahre 1.092 5,8 948 5,5 25 bis unter 50 Jahre 3.140 4,2 2.910 4,2 50 Jahre und älter 330 0,7 292 0,7 Zu 2.: Die Pflichtverletzungen, die eine Sanktionierung zur Folge haben, sind in § 31 SGB II aufgeführt. Darüber hinaus führen auch Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II zu einer Minderung des Arbeitslosengeldes II bzw. des Sozialgeldes der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die nachstehende Tabelle enthält eine Übersicht, aus der die jeweilige Anzahl der Sanktionstatbestände und die Gesamtzahl der in den Jahren 2013 und 2014 neu festgestellten Sanktionen für Thüringen entnommen werden kann. Die veröffentlichten Statistiken der Bundesagentur für Arbeit enthalten für die Jobcenter der Landkreise und kreisfreien Städte nur Monatswerte . Diese können unter dem in der Antwort zu Frage 1 aufgeführten Link im Internet eingesehen werden. Tabelle 3: Neu festgestellte Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach Sanktionsgründen in den Jahren 2013 und 2014 Sanktionsgrund 2013 2014 Weigerung Erfüllung der Pflichten der Eingliederungsvereinbarung (§ 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB II) 2.792 1.955 Weigerung Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme (§ 31 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB II) 5.543 5.213 Meldeversäumnis beim Träger (§ 32 SGB II) 26.202 23.818 Meldeversäumnis beim ärztlichen oder psychologischen Dienst (§ 32 SGB II) 82 98 Verminderung von Einkommen bzw. Vermögen (§ 31 Abs. 2 Nr. 1 SGB II) 49 47 Fortsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens (§ 31 Abs. 2 Nr. 2 SGB II) 4 5 Eintritt einer Sperrzeit oder Erlöschen des Anspruchs nach dem SGB III (§ 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II) 723 687 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/888 Sanktionsgrund 2013 2014 Erfüllung der Voraussetzung für Eintritt einer Sperrzeit nach dem SGB III (§ 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II) 423 420 Anzahl neu festgestellte Sanktionen gesamt 35.819 32.243 Zu 3.: Die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II sind in § 31a SGB II aufgeführt. Eine der Fragestellung entsprechende Statistik liegt der Landesregierung nicht vor. Zu 4.: Eine der Fragestellung entsprechende statistische Erhebung (Zugang Widersprüche und Klagen gegen Sanktionsbescheide nach Jahren) liegt der Landesregierung nicht vor. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Übersicht zum Bestand an Widersprüchen und Klagen zu dem Sachgebiet Sanktionen zu den Berichtsmonaten Dezember 2013 und Dezember 2014 der Jobcenter der Landkreise und kreisfreien Städte Thüringens. Tabelle 4: Bestand an Widersprüchen/Klagen zum Sachgebiet Sanktionen in den Jobcentern in den Berichtsmonaten 12/2013 und 12/2014 Jobcenter (JC) Bestand Dezember 2013 Bestand Dezember 2014 Widersprüche Klagen Widersprüche Klagen JC Eisenach, Stadt 9 30 3 25 JC Erfurt, Stadt 76 88 44 111 JC Gera, Stadt 11 28 15 18 JC Jena, Stadt 34 - 2 41 - 2 JC Suhl, Stadt 5 13 5 11 JC Weimar, Stadt 12 8 6 8 JC Altenburger Land 3 24 9 13 JC Eichsfeld 22 3 32 3 JC Gotha 6 64 - 2 67 JC Greiz 47 14 3 16 JC Hildburghausen 9 - 2 7 3 JC Ilm-Kreis 16 19 10 11 JC Kyffhäuserkreis 5 5 3 7 JC Nordhausen 12 22 4 19 JC Saale-Holzland-Kreis 3 10 3 12 JC Saale-Orla-Kreis 17 8 14 19 JC Saalfeld-Rudolstadt 36 51 10 56 JC Schmalkalden-Meiningen 8 6 28 3 JC Sömmerda 4 3 7 3 JC Sonneberg 11 5 7 10 JC Unstrut-Hainich-Kreis 13 34 11 40 JC Wartburgkreis 5 11 7 8 JC Weimarer Land 12 12 4 10 Thüringen 377 456 277 468 Zu 5.: Eine der Fragestellung entsprechende statistische Erhebung liegt der Landesregierung nicht vor. Zu 6.. Der nachstehenden Tabelle kann die Entwicklung der Anzahl der neu festgestellten Sanktionen und der durchschnittliche Bestand an erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (eLb) mit mindestens einer Sanktion sowie die entsprechende Sanktionsquote in den Jahren 2010 bis 2014 entnommen werden. 5 Drucksache 6/888Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Tabelle 8: Entwicklung der Anzahl neu festgestellter Sanktionen, der Anzahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und der Sanktionsquote in den Jahren 2010 bis 2014 Jahr Anzahl neu festgestellte Sanktionen Jahresdurchschnittlicher Bestand an eLb mit mindestens einer Sanktion Jahresdurch schnittlicher Bestand an eLb Sanktionsquote in Bezug auf alle eLb 2010 29.939 4.542 171.781 2,6 2011 32.468 4.642 154.421 3,0 2012 34.985 4.668 143.609 3,2 2013 35.819 4.563 138.187 3,3 2014 32.243 4.150 130.937 3,2 Zu 7.: Das Sozialgericht Gotha kam in einem am 26. Mai 2015 verkündeten Beschluss der 15. Kammer (Az.: S 15 AS 5157/14) zu dem Ergebnis, dass Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte verfassungswidrig sind. Die Kammer hat deshalb das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung der Frage der Verfassungswidrigkeit der SGB-II-Sanktionsregelungen und der darauf beruhenden Sanktionspraxis der Jobcenter vorgelegt. Die im SGB II verankerten Sanktionstatbestände und die daraus folgenden Minderungen der Leistungen werden seit Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig kontrovers diskutiert . Der Bundesgesetzgeber sah die Sanktionsmöglichkeiten als einen wesentlichen Bestandteil des im Kapitel 1 des SGB II aufgeführten Grundsatzes des "Förderns und Forderns" an. Die Bundesregierung der 17. Wahlperiode hatte in Antworten auf Kleine Anfragen wiederholt die Auffassung vertreten, dass die Sanktionsregelungen im SGB II nicht gegen das Grundgesetz verstoßen und sah daher eine Änderung des SGB II nicht als erforderlich an (Drucksachen 17/12247, 17/11459 und 17/6833). Wie die Sanktionsquote in Thüringen zeigt, sind ca. 97 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nicht von Sanktionen betroffen. Gleichwohl führen die vollzogenen Sanktionen bei den Betroffenen zu teilweise erheblichen Leistungseinschränkungen. Diese werden durch Sachleistungen oder geldwerte Leistungen nach § 31a Abs. 3 SGB II nicht vollständig ausgeglichen. Daher ist die Frage, ob in diesen Fällen das vom Grundgesetz garantierte menschenwürdige Existenzminimum zur Verfügung steht, grundsätzlich berechtigt . Die Landesregierung begrüßt es daher, dass sich das Bundesverfassungsgericht aufgrund des Vorlagebeschlusses des SG Gotha mit dieser Thematik befassen wird. Zu 8.: Beim Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) handelt es sich um ein Bundesgesetz. Die Umsetzung des SGB II erfolgt in den Jobcentern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern müssen die bestehenden gesetzlichen Regelungen anwenden. Vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann nur der Bundesgesetzgeber eine Änderung der Vorschriften zu den Sanktionsregelungen vornehmen. In Vertretung Feierabend Staatssekretärin Endnote 1 Für das Jobcenter des Landkreises Eichsfeld wird kein Jahreswert in der Statistik ausgewiesen. 2 Keine Daten vorhanden. 3 Aus datenschutzgründen und Gründen der statistischen Geheimhaltung werden Zahlenwerte von 1 oder 2 und Daten , aus denen rechnerisch auf einen solchen Zahlenwert geschlossen werden können, in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit anonymisiert.